Gepostet von: Jürgen Cassier
Veröffentlicht am 09.07.2019
Die Theatergruppe RollenTausch führte das Stück im März 2018 in der Aula der Theodor-Heuss- Schule in Rotenburg auf.
Zu Esther Vilar:
Die Dame ist den Älteren noch in Erinnerung als streitbarer Talkshow-Gast in den 80er Jahren. Sie lieferte sich so manches Wortgefecht mit Alice Schwarzer, die natürlich die Fahne der Feministin hochhielt, während Esther Vilar meinte, die Männer in Schutz nehmen zu müssen.
Esther Vilar, geboren 1935 in Buenos Aires als Tochter deutsch-jüdischer Emigranten, studierte Medizin in Argentinien und ab 1960 Soziologie und Psychologie an der Hochschule für Sozialwissenschaften in Wilhelmshaven und in München. Sie arbeitete zunächst als Ärztin.
Später war sie als Übersetzerin und Rundfunkautorin tätig und begann Bücher zu schreiben. Esther Vilar ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung. Also in einer Vereinigung, die sich der Verbreitung atheistischen Gedankenguts widmet.
Esther Vilar veröffentlichte weitere Bücher und Bühnenwerke, die sich oft gegen „linke“ und feministische Positionen richteten. Zu ihren bekannten Texten zählt die eigenwillige Auseinandersetzung mit Henrik Ibsens Schauspiel Nora oder Ein Puppenheim, das in den 1970er Jahren von der Frauenbewegung stark rezipiert wurde. Ihre Dramen, insbesondere EiferSucht, werden auf deutschsprachigen und europäischen Bühnen gespielt. 1996 schrieb sie unser Stück, die Satire oder Komödie „Die Erziehung der Engel“.
Frage eines kleinen russischen Mädchens an seine Mutter:
Weiß der liebe Gott, daß wir nicht an ihn glauben?
Manche sind nur bei schönem Wetter Atheisten.
Gedanken zu Esther Vilars Satire
Da sitzen oder bewegen sich nun sechs Verstorbene und warten auf den Abflug ins Jenseits, ins Paradies. Darunter Max, der sich immer noch für lebendig und im Wachkoma hält; er übt berechtigte Kritik an dieser merkwürdigen Veranstaltung irgendwo zwischen Himmel und Erde ...
Gott - eine Frau! Max hat schon auf Erden seine Probleme mit Emanzen wie Sarah Rodinski gehabt. Und er hat Gott einige Fragen zu stellen. Theologisch betrachtet sind diese Fragen so alt wie die Menschheit, nämlich die Frage nach der Rechtfertigung Gottes (Theodizee) angesichts des Leidens in der Welt. Warum läßt Gott das Leid zu?
In unserem Theaterstück hat Vilar das Leidensproblem salopp reduziert auf Max‘ Frage „Warum haben Sie mir nicht wenigstens den Zahnarzt erspart?“
Doch Gott rechtfertigt sich; die Menschen seien ihr wohl ein wenig daneben geraten. Sie hätte lieber den Papageien die Sprache (und den Verstand) gegeben und die Menschen lediglich singen lassen sollen.
Die Atheistin Esther Vilar geißelt mit Hilfe der Satire, also dem Stilmittel der Übertreibung und der Darbietung von Stereotypen handelnder Personen, das Verhalten der Menschen.
Sie kritisiert den Jenseitsglauben der Menschen als Egoismus („Ich bin die Witwe des berühmten Malers Jonathan Gladstone“). Sie belächelt die Scheinheiligkeit der Kirchenvertreter („Mein Gewissen ist rein“). Und schließlich veräppelt sie die Vorstellungen der Menschen vom Jenseits. Denn die wünschen sich, daß ihr Ego aufgehoben bleibt in einer Art von ewigem Happy-End.
Denn sie können von ihrem Erdendasein nicht lassen und halten selbst ihre irdischen Gewohnheiten, wie die Einhaltung der Straßenverkehrsordnung, auch im Himmel für möglich („Himmlische Verkehrsordnung - HVO“).
Von heutiger theologischer Warte betrachtet, kritisiert Esther Vilar einen naiven Kinderglauben, allerdings auch ein Bibelverständnis, das jedes biblische Wort als Wort Gottes betrachtet und für nicht veränderlich und interpretierbar hält.
Moderne Theologie geht von einem Gottesbegriff aus, der meilenweit von dem Gottesbild, wie es im Stück kritisiert wird, entfernt ist. Der bedeutende Theologe Dietrich Bonhoeffer hat den Satz geprägt: „Einen Gott, den ich mir vorstellen kann, kann ich auch wieder wegstellen.“
Oder im Sprachgebrauch heutiger Theologie: Alles, was wir über Gott sagen, ist Gott unähnlicher als ähnlich.
Gottesglauben hing stets mit Jenseitsvorstellungen zusammen. Archäologen unterscheiden bei Knochenfunden die prähistorischen Menschenknochen von denen der Primaten. Die der Menschen liegen geordnet und ausgerichtet. Weit verbreitet ist bei unseren Vorfahren bei der Bestattung die Höcker- oder Embryonalstellung. Warum wohl? - Zu allen Zeiten haben Menschen versucht, ihr Gottesbild mit ihrem Ich in Einklang zu bringen. So entstehen Bilder vom liebenden Vater, vom Paradies. Es sind Bilder, nicht mehr - und nicht weniger. Menschen haben eine Sehnsucht, die Welt, den Kosmos und sich selbst zu verstehen. Dabei kommen sie zwangsläufig zu der Frage nach den letzten Dingen - die sich oft rationaler Erklärung entzieht.
Also: Gottesglauben und Jenseitsglauben sind Hirngespinste? Ja ... aber: Hirngespinst ist auch die Vorstellung von unserer Welt. Was wir für Realität halten, ist zunächst einmal die Konstruktion unseres Gehirns. Oder wußten Sie etwa, daß Materie zu 99,999999999 % aus nichts besteht? Und dennoch kann ich mir an einer Wand ganz schön den Kopf stoßen!
Max stellt Gott am Ende eine Menge Fragen - und Gott beantwortet sie vor dem Abflug, aber in schriftlicher Form. Anders gesagt: Wir erfahren die Antworten nie. Vielleicht erfahren wir sie, wenn wir den letzten Sprung tun werden. Oder, frei nach Schopenhauer: In dem Moment des Übergangs, in dem wir alles erkennen könnten, wird uns leider das Licht ausgeknipst. Warten wir‘s ab ...
Auszug aus Programmheft
Heribert Eiden
Quelle: www.youtube.de